Magischer Realismus
Nach der Wende 1990 sind in der tschechischen Literatur zahlreiche Prosatexte erschienen, die das Phänomen Magischer Realismus neu belebt haben – als ob diese Verbindung von Fantastik und Realität der Schlüssel dazu wäre, nicht nur über die Absurdität der totalitären Zeit zu sprechen, sondern auch das Instrument einer unmittelbaren Reaktion auf den turbulenten Gesellschaftswandel der 90er-Jahre. Diese Spur bleibt dauerhaft in der tschechischen Literatur vorhanden: Bemerkenswert ist ihre Kombination mit der „Stadtliteratur“. Diese sogenannten magischen Räume laufen parallel zur Wirklichkeit, jederzeit bereit, geordnete Existenzen zu zerstören. Zu diesen Autoren gehören in erster Linie Michal Ajvaz („Die Rückkehr des alten Warans“) und Jiří Kratochvil („Die niederträchtige Boshaftigkeit ders Seins“).
Blick auf die jüngere Vergangenheit
Erst die gegenwärtige jüngere Generation von Schriftstellern kehrt dahin zurück, Tabuthemen der tschechischen Geschichte aufzuschließen, Themen, die die neuraligischen Punkte tschechischer Geschichte berühren, herauszustellen. Zu den wichtigsten Themen tschechischer Mitschuld an den Gräueltaten des 20. Jahrhunderts gehört auch das Schicksal der deutschen und jüdischen Bevölkerung. Vor allem die Beziehung zur deutschen Bevölkerung wurde eines der Schlüsselthemen dieser Literatur ab dem 21. Jahrhundert, die langsam wie ein Dorn in den Körper der jüngsten tschechischen Geschichte eingeführt wird. Zu bedeutenden Autorinnen und Autoren gehören hier Kateřina Tučková („Gerta. Das deutsche Mädchen“) und Radka Denemarková.
Entdeckung fremder Welten
Die Generation, die in den 90er Jahren in die Literatur ihren Einstieg fand, war vor die Aufgabe gestellt, Neues zu entdecken. Und das nicht nur in der Geschichte der eigenen Nation, die durch die offizielle Ideologie verzerrt war, sondern auch in einer anderen Welt, die sich noch für die Generation ihrer Eltern hinter dem Eisernen Vorhang befand. Literatur, die andere Welten als Bestandteil der inneren Welt des Autors anbietet, ist noch immer in der tschechischen Literatur dominant, in der Poesie, wie auch in der Prosa. Zu den besonderen Autoren in diesem Bereich gehören Iva Pekárková („Noch so einer“), der Prosa-Schriftsteller und Dichter Petr Borkovec („Lido di Dante“) sowie die Dichterin Sylva Fischerová („Die Weltuhr“).
Soziale Reflexionen
Die Versuche, die heutige gesellschaftliche Situation der ständigen Wandlung zu reflektieren, die häufig auch Ursache von Chaos und Instabilität ist, ist die Aufgabe eines bedeutenden Teils von Autorinnen und Autoren, die meistens zu der reiferen Generation gehören. Die dramatische Unsicherheit, in der sich Familien- und Freundschaftsbande auflösen, fühlt aber auch die jüngste Autoren-Generation und thematisiert das Bedürfnis, Teil eines Systems zu sein, das den Alltag überschreitet. Der Versuch, der individuellen Existenz einen höheren Sinn zu verleihen, ist dabei oftmals mit dem Wertverfall der Gegenwart konfrontiert. Davon erzählen die Romane von Jáchym Topol („Ein empfindsamer Mensch“), Radka Denemarková („Ein Beitrag zur Geschichte der Freude“), Jiří Hájíček („Der Regenstab“), Bianca Bellová („Am See“). Eng verbunden damit ist das Phänomen der „Provinzliteratur“ wie etwa bei Jíří Hájiček. Seine Bücher zeigen, dass sich die Unsicherheit der Gegenwart dort verbreitet hat, wo vormals noch eine Ordnung herrschte: eine Ordnung der Familie, der Dorfgemeinschaft und der Metaphysik.
Historischer Roman
Erst in letzter Zeit begibt sich die tschechische Literatur wieder auf den Weg der historischen Prosa. Der Weg führt dann meistens in die Zeit der Ersten Tschechoslowakischen Republik, also in die Zeit der Moderne und führt direkt zu aktuellen Identifikationsdebatten der tschechischen Gesellschaft. Diesen Weg gehen etwa Jan Němec mit seinem Roman über den modernen tschechischen Photographen František Drtikol („Die Geschichte des Lichts“) oder Martin Reiner und sein Roman über den modernen Dichter Ivan Blatný („Básník – der Dichter“).
Prof. PhDr. Tomáš Kubíček ist Projektleiter des Gastlandes Tschechien auf der Leipziger Buchmesse 2019 und Direktor der Mährischen Landesbibliothek Brünn. Die Mährische Landesbibliothek veranstaltet gemeinsam mit dem Kulturministerium der Tschechischen Republik den Gastlandauftritt zur Leipziger Buchmesse.
Der 1966 in Brünn geborene Literaturwissenschaftler und Historiker lehrt seit 2003 an der Karls-Universität (Univerzita Karlova) Prag. Zahlreiche Monografien, Sammelbände und Fachartikel zur tschechischen Literatur des 20. und beginnenden 21. Jahrhunderts hat er seither veröffentlicht. Als Mitglied der Promotionsstudienkommissionen an den beiden ältesten tschechischen Hochschulen, der Karls-Universität Prag (1348 gegründet) und der Palacký Universität in Olomouc (1573 gegründet) sowie der 1991 gestarteten Universität Südböhmen in Budweis sorgt er zudem für den wissenschaftlichen Nachwuchs.
Tschechien – Gastland der Leipziger Buchmesse 2019 wird veranstaltet vom Kulturministerium der Tschechischen Republik und der Mährischen Landesbibliothek sowie der Leipziger Buchmesse, mit freundlicher Unterstützung der Botschaft der Tschechischen Republik in Deutschland, dem Generalkonsulat der Tschechischen Republik in Dresden, der Partnerstädte Leipzig und Brünn, der Tschechischen Zentren in Deutschland und Österreich, des Deutsch-Tschechischen Zukunftsfonds und des Goethe Instituts Prag sowie zahlreicher weiterer Partnerinstitutionen
Newsletter abonnieren
Verpassen Sie keinen Programmpunkt des Tschechischen Kulturjahres und abonnieren Sie unseren Newsletter.