Morgen, Mittwoch, den 11.11.2020, wäre Österreichs bedeutendste Branchenmesse, die Buch Wien, gestartet, die durch die Corona-Pandemie bedingt leider abgesagt werden musste. Zu den herausragenden Gästen der Buch Wien gehörte die tschechische Erfolgsautorin Iva Procházková mit einer Premierenlesung aus ihrem neuen Buch „Die Residentur“ (übersetzt von Mirko Kraetsch, Braumüller Verlag, Oktober 2020). Darin verarbeitet sie reale Ereignisse wie die russische Annexion der Krim (2014) oder die Ermordung des slowakischen Journalisten Ján Kuciak (2018) zu einem Politthriller, dessen zentraler Ort die „Residentur“ ist: die Russische Botschaft mit Sitz des Geheimdienstes in Prag. Zur Zeit des Eisernen Vorhangs neben Wien das Zentrum internationaler Nachrichtendienste in Mitteleuropa, entwickelte sich die tschechische Hauptstadt seit der Wiederwahl Putins 2012 erneut zum Hotspot der Agenten. Mit „Die Residentur“ schrieb Iva Procházková einen Roman, der seine Spannung aus der Zuspitzung brisanter politischer Verwicklungen bezieht und gekonnt mit imaginierten Elementen verbindet.
Im Interview mit Echo Tschechien, das Sie auf unserer Website sowie unten angefügt finden, spricht Iva Procházková über ihre Inspirationsquellen, die eigene bewegte Vergangenheit als Tochter eines der Wortführer des Prager Frühlings, über ihre Verbindung mit Deutschland und Österreich sowie die Beweggründe, vom Kinder- und Jugendbuch zur Spannungsliteratur für Erwachsene zu wechseln.
Interview
Wirklichkeit trifft Magie – Vom Jugendbuch zum Thriller.
Iva Procházková, gefeierte tschechische Kinder- und Jugendbuchautorin, wechselt ins Genre der Spannungsliteratur und legt mit „Die Residentur“ ihren ersten Politthriller vor
Liebe Frau Procházková, heute erreiche ich Sie in Ihrer Wohnung in Prag. In anderen Zeiten wäre Ihr Alltag durch Reisen und internationale Auftritte geprägt. Wie erleben Sie die aktuelle, durch die Corona-Pandemie bestimmte Situation, wie gestaltet sich Ihr Leben als Schriftstellerin während des Lockdowns?
IP: Meine Teilnahmen an den Buchmessen in Warschau, Frankfurt und Wien wurden abgesagt, daher bleibe ich in Prag und konzentriere mich ganz auf mein neues Buch. Und kurioser Weise wurde in Tschechien gerade jetzt ein früher Titel von mir neu aufgelegt – „Wir treffen uns, wenn alle weg sind“ heißt es auf Deutsch. Es ist eine Geschichte über eine Pandemie. Die Menschen in meinem Roman lösen sich auf, die Körper werden immer durchsichtiger. Zurück bleiben die leeren Kleider. Auf Deutsch ist das Buch 2007 erschienen und hat den Evangelischen Buchpreis gewonnen. Die Jury damals lobte, wie fantasievoll das Buch ein Katastrophenszenario beschreibe, in dem gesellschaftliche Strukturen zerbrechen und Jugendliche damit vor die Frage nach dem Wesentlichen gestellt werden, danach, was bleibt, wenn Ohnmacht, Angst und Verzweiflung die Macht übernehmen. Die Corona-Pandemie hat meiner Erzählung nun neue Brisanz verliehen.
Im November hätten Sie einen wichtigen Auftritt bei der Buch Wien gehabt, die am 11. November beginnen sollte – eine Premierenlesung aus Ihrem neuen Politroman „Die Residentur“. Aber zuvor ein kleiner biografischer Exkurs: Nach Österreich und Deutschland gingen Sie ja 1983 für rund zehn Jahre ins Exil. Hat Sie das Leben in den deutschsprachigen Ländern auch als Schriftstellerin geprägt, und wie ist Ihr Blick heute auf diese Nachbarländer Tschechiens?
IP: 1983 ging ich aus politischen Gründen mit meinem Mann und unseren Kindern zuerst nach Wien, danach nach Konstanz und Bremen. Die deutschsprachigen Länder haben mich kulturell schon immer interessiert. Wir haben eine gemeinsame Geschichte; die österreichische und deutsche Literatur ist der tschechischen sehr nahe, beide sind verwandt. Als Schriftstellerin stand ich im Jahr 1983 am Anfang, und man kann sagen, dass sich im Exil mein Stil entwickelt hat. Als Mutter von drei Kindern wollte ich damals vor allem Jugendbücher schreiben, außerdem die deutsche Sprache möglichst gut erlernen. Und so habe ich beides miteinander verbunden, verfasste meine Geschichten zuerst auf Tschechisch, übersetzte sie darauf selbst ins Deutsche und habe sie beim Übersetzen wiederum neu modelliert. Es war diese Übersetzungsarbeit, durch die ich überhaupt zu meinem prägenden Stil fand.
Und der war sehr erfolgreich, für ihre Kinder- und Jugendbücher erhielten Sie viele Literaturpreise, darunter der Österreichische Jugendbuchpreis, der Deutsche Jugendliteraturpreis, der Luchs des Jahres und viele mehr. 2018 sind Sie mit „Der Mann am Grund“ in das Genre der Spannungsliteratur, des Thrillers gewechselt. Bedeutete dies eine Kehrtwende, oder möchten Sie sich künftig schriftstellerisch in beiden Genre-Welten bewegen?
IP: Das Schreiben für Kinder und Jugendliche ist für mich eher abgeschlossen. Ich möchte mich auf Bücher für Erwachsene konzentrieren, wenngleich noch das eine oder andere Thema für Kinder in meinem PC schlummert. Thriller und Jugendbuch, das sind zwar unterschiedliche Genres, aber in Wirklichkeit ist die Herangehensweise recht ähnlich. Der Plot steht im Vordergrund, die Sprache muss sehr konkret sein, Spannung erzeugen und Emotionen wecken. Auch große Themen wie der Tod sind meinen Kinderbüchern nicht fremd. Und ich verbinde in beiden Genres wahre oder auch alltägliche Begebenheiten mit Elementen der Phantasie und Magie, beschreibe, wie Außergewöhnliches in die Alltagswelt einbricht und das Leben der Menschen verändert, lasse Wirklichkeit und Magie aufeinandertreffen.
Soeben ist Ihr neuer, nunmehr zweiter Thriller „Die Residentur“ im österreichischen Braumüller Verlag erschienen. Der Tod eines unbequemen Journalisten unmittelbar vor der Europawahl steht am Beginn der dramatischen Geschichte des Romans. Es geht darin um Korruption, Mord, schmutzige Praktiken der Geheimdienste, zweifelhafte Finanzquellen für den Wahlkampf, Guerillakrieg – haben Sie zu diesen Themen reale Begebenheiten veranlasst?
IP: Ja, das Buch ist in der Tat ein Politthriller, in dem viel reales Leben steckt, Spannung und Emotion. Meine großen Vorbilder sind Graham Greene und John Le Carré, denen es unvergleichlich gelang, Eleganz mit Spannung zu verbinden. Spannung in meinem Buch entwickelt sich aus Ereignissen, die angestoßen wurden durch wahre Begebenheiten wie die russische Annexion der Krim (2014/15) oder die Ermordung des slowakischen Journalisten Ján Kuciak (2018). Mit einem ähnlichen bestellten Mord eröffne ich den Roman. Das Motiv der Korruption durchzieht darauf den Gang der Handlung, die zeigt, was alltägliche Wirklichkeit ist: Politiker, die sich instrumentalisieren lassen, Macht missbrauchen, Spenden annehmen und dadurch Großindustriellen Gefälligkeiten schulden etc. Štěpán, der Held meines Romans, ein Ministerialbeamter, der fürs Europäische Parlament kandidieren will, steckt da mitten drin. Er proklamiert Unabhängigkeit, gibt sich volksnah, ist tatsächlich aber durch ein in der Vergangenheit liegendes Ereignis erpressbar und manipulierbar. Er soll in Brüssel als eine Art Marionette fremden Mächten dienen und entsprechenden Einfluss üben. Der politisch motivierte Journalisten-Mord lässt das Kartengerüst seines Lebens kippen, führt zur Enthüllung seiner Lügen und zwingt ihn zur Improvisation. Dazu kommt, dass sein 19-jähriger Sohn Richard offen gegen ihn rebelliert und sich radikalisiert. Dies steigert sich noch dadurch, dass Russland „Kasmenien“ attackiert, einen imaginären Staat, der in meinem Buch symbolisch für russische Grenzstaaten wie Georgien, Tschetschenien und die Ukraine steht. Der Vater-Sohn-Konflikt spitzt sich zu, und Štěpán muss sich zwischen Karriere und der Liebe zu seinem Sohn entscheiden.
Wofür genau steht der Titel Ihres Buches?
IP: Die Residentur, das ist die Vertretung eines Nachrichtendienstes im Ausland, in meinem Roman des russischen Nachrichtendienstes im opulenten Botschaftsgebäude in Prag. Zur Zeit des Eisernen Vorhangs war Prag (so wie Wien) ein wichtiges Zentrum der Agenten und Mitarbeiter ausländischer Nachrichtendienste in Mitteleuropa. Bei uns wimmelte es nur so von Spionen. Seit Putins Wiederwahl 2012 ist das erneut so. Ich wollte mehr über deren zweifelhafte Methoden und verbrecherische Machenschaften hinter den Kulissen herausfinden, wollte die zerstörerischen Auswirkungen ihrer Arbeit festhalten und in eine überzeugende Form bringen. Deshalb habe ich gründlich recherchiert, Gespräche mit ehemaligen Mitarbeitern unseres Nachrichtendienstes und mit weiteren involvierten Leuten geführt. Daraus ist der Roman entstanden, dessen Titel für sich spricht.
Sind gesellschaftskritische Botschaften Antrieb für Sie, als Schriftstellerin zu arbeiten, und ist das Krimigenre auch deshalb geeignet, weil Sie mit Zuspitzungen besonders dazu anregen können, Position zu beziehen?
IP: Politisch habe ich immer schon gedacht, seit meiner Jugend. Mein Vater, der Schriftsteller Jan Procházka, war politisch sehr engagiert, er war Wortführer des „Prager Frühlings“, und nach der Besetzung unserer Heimat durch die Truppen des Warschauer Pakts 1968 wurde er bis zu seinem Tod verfolgt. Daher durfte ich nicht studieren und publizieren. Dennoch, mir war immer wichtig, auch öffentlich Position zu beziehen. Aktuell macht mich betroffen, dass sich die tschechische Politik immer stärker dem Einfluss Moskaus aussetzt. Medien, Zeitungen und Magazine werden durch Lobbyisten und Politiker aufgekauft, die eigene Interessen verfolgen. So lässt sich politische Propaganda machen und die öffentliche Meinung manipulieren. „Die Residentur“ führt solche Verstrickungen vor, verbindet Thriller, Drama und Politik.
Liebe Frau Procházková, vielen Dank für das Gespräch!
Das Interview führte Susanne Meierhenrich.
Iva Procházková: Die Residentur.
übersetzt von Mirko Kraetsch.
Braumüller Verlag, Oktober 2020
24,- Euro
Rezensionsexemplare erhalten Sie über den Verlag: presse@braumueller.at
PRESSEKONTAKT
Susanne Meierhenrich
Herbst-Echo Tschechien 2020
Pressesprecherin
Ruth Justen
Social Media Managerin
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